»Die Antwort auf die Frage nach der Rangordnung der Werte - wie Leben und Freiheit, Freiheit und Gleichheit, Freiheit und Sicherheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit, Individuum und Nation — muß verschieden ausfallen . . . und die Antwort wird stets den Charakter eines subjektiven und daher bloß relativen Werturteils haben.« Doch bedeutet die Subjektivität der Werturteile nicht, daß jedes Individuum sein eigenes Wertsystem hätte. Vielmehr sind die Wertsysteme, insbesondere die Moralordnungen mit ihrer Zentralidee der Gerechtigkeit, soziale Erscheinungen. Daher unterscheiden sie sich je nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb deren sie Zustandekommen. Obwohl die Frage nach dem höchsten Wert oder dem richtigen Moralsystem rational nicht beantwortet werden kann, suchen die Menschen ihr Verhalten mit Hilfe solcher Werte und Systeme zu rechtfertigen. Bei der Beurteilung dieser Tatsache kommt Kelsen zu sehr pessimistischen Folgerungen: »Das Bedürfnis nach Rechtfertigung oder Rationalisierung ist vielleicht einer der Unterschiede, die zwischen Mensch und Tier bestehen. Das äußere Verhalten der Menschen unterscheidet sich nicht sehr von dem der Tiere: die großen Fische fressen die kleinen, im Tierreich wie im Menschenreich. Wenn aber ein menschlicher Fisch, von seinen Instinkten getrieben, sich so verhält, wünscht er doch sein Verhalten vor sich selbst und vor der Gesellschaft zu rechtfergen, sein Gewissen mit der Vorstellung zu beruhigen, daß sein Verhalten gegenüber seinen Nebenmenschen gut ist.« Freilich liegen der Forderung nach »Gerechtigkeit« mitunter auch uneigennützige Motive zugrunde. Um so tragischer mag es anmuten, daß es auf die Frage »Was ist Gerechtigkeit?« keine Antwort gibt, die jene befriedigt, welche sie stellen. Wer meint, ein allgemeingültiges höchstes Rechtsprinzip oder einen obersten Wert wissenschaftlich- rational bestimmen zu können, fällt der Illusion zum Opfer, »daß es möglich sei, in der menschlichen Vernunft gewisse Grundprinzipien zu finden, die jene absoluten Werte konstituieren - die aber in Wahrheit von den emotionalen Elementen ihres Bewußtseins konstituiert werden. Die Bestimmung der absoluten Werte im allgemeinen und die Definition der Gerechtigkeit im besonderen, die auf diesem Wege erzielt werden, erweisen sich als völlig leere Formeln, durch die jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht gerechtfertigt werden kann«. Zu diesen inhaltsleeren Formeln der Gerechtigkeit zählt das alte, auch heute noch strapazierte Prinzip »Jedem das Seine« sowie das marxistische Postulat »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Diese scheinbaren »obersten Grundsätze« setzen jeweils schon konkrete Wertungen und Normen voraus, nach denen jedem das Seine zugeteilt werden soll, nach denen die Fähigkeiten und Bedürfnisse zu beurteilen sind. Solche Grundsätze lassen sich daher mit jedem beliebigen Wertsystem und mit jeder nur denkbaren, bestehenden oder gewünschten Sozialordnung vereinbaren. Dasselbe gilt für die sogenannte Goldene Regel (»Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg' auch keinem andern zu«), für Kants Kategorischen Imperativ oder für die aristotelische Formel von der »rechten Mitte«. Die eigentliche Funktion der zuletzt genannten Formel »ist nicht, das Wesen der Gerechtigkeit zu bestimmen, sondern die Geltung der bestehenden, in der positiven Moral und dem positiven Recht etablierten Gesellschaftsordnung zu bekräftigen. Diese politisch höchst bedeutsame Leistung sichert die aristotelische Ethik gegen eine kritische Analyse, die ihre wissenschaftliche Wertlosigkeit aufzeigt«. Nicht weniger vergeblich waren die Versuche, aus der allgemeinen oder menschlichen Natur oder Vernunft letztgültige Werte oder Normen abzuleiten. Was dabei herauskam, waren nur die jeweils schon vorausgesetzten moralisch-politischen Stellungnahmen. Mit den auf Trugschlüssen gegründeten Methoden der Naturrechtslehren kann man eben alles und daher nichts beweisen.

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